Was macht das Schöne, das Besondere, das Flair von Neapel aus? Es sind die Menschen! Sie gestikulieren, reden, lachen, flanieren – und leben. Einen Eindruck davon bekomme ich auf meiner ersten Reise in diese pulsierende Metropole. Annäherung an die Seele dieser Stadt.
Der erste, der mich neugierig auf Neapel machte, war mein Großvater mit seinen Erzählungen über das beschwerliche Leben in der Stadt Ende der 1940er-Jahre. Zugleich beschrieb er die ungebrochene Lebensfreude der Neapolitaner in der stolzen Stadt am türkis glitzernden Mittelmeer.
Die mediterrane Leichtigkeit nahm mein Großvater mit in den Norden und schwärmte Zeit seines Lebens von Neapel, das er nie wiedersah. Heute weiß ich: Er hat die Stadt und ihre Menschen immer mit dem Herzen gesehen.



Fotos: Meerlady
Lange nach seinem Tod war es an mir, diese lebensfrohe Stadt am Golf und ihre Menschen zu entdecken – und mit meinem Herzen zu sehen. Es kam eine Zeit, da wünschte ich mir ein Doppel-Herz: für die Stadt und für meinen Lieblingsitaliener. Ich hatte mich in einen Süditaliener verliebt.
Oft saßen wir bei einem selbstgekochten traditionellen Pasta-Gericht und einem guten süditalienischen Wein zusammen. Dann war er es, der mir die Stadt und die Region in allen Farben malte – und selbst die dunklen Schattierungen nicht vergaß. Vor allem vermittelte er mir die süditalienische Lebensweise mit der Familie und der guten mediterranen Küche und dem Caffé im Mittelpunkt.
Inhaltsverzeichnis
Herzlicher Empfang in Neapel
Dann sitzen ich an einem Frühlingstag im Flugzeug, dass über den sonnenbeschienenen Golf von Neapel und das strahlend blaue Mittelmeer fliegt und nach einer Linkskurve zur Landung ansetzt.
Die Fahrt mit dem Taxi zu dem kleinen B&B in der dritten Etage eines altehrwürdigen Palazzos in Chiaia, einem Stadtteil am Meer, vermittelte mir einen ersten Eindruck von dieser niemals ruhenden Metropole, in der sich tagein tagaus mehr oder weniger verbeulte Autos durch viel zu engen Straßen schieben. Für ein an Disziplin, Ordnung und Sauberkeit gewohntes Nordlicht kann die chronisch verstopfte Stadt ein Schock sein.
Die jungen Betreiber des B&B geben sich alle Mühe: Das Zimmer ist immer top sauber und wird täglich geputzt. Der Frühstückstisch ist für italienische Verhältnisse reich gedeckt, der frischgebrühte Caffé heiß und stark. Von den jungen Leuten bekomme ich wertvolle Tipps für meine Grand Tour Neapel.
Atemberaubender Blick auf den Golf von Neapel
Am ersten Tag stehe ich an der Bushaltstelle, pausenlos rauschen Autos, Mororräder und Vespas vorbei. Der öffentliche Bus bringt mich zur station der Funicolare Mergellina, die bis zum Posillipo hinauffährt. Von diesen Standseilbahnen gibt es vier in der Stadt. Als Flachländerin kenne ich solche Verkehrsmittel nur aus dem Mittelgebirge. In Neapel überwindet man damit die Berghänge des auslaufenden Apennins, an die die Stadt gebaut ist.
Gut, dass ich in bequemen Schuhen unterwegs bin. Auf bequemen, erfreulich sauberen Wegen laufe ich bergab nach Mergellina, vorbei an betörend duftenden Jasmin-Sträuchern. Jede Kehre bietet mir einen atemberaubenden Blick auf den Golf von Neapel. Am meisten genieße ich den Anblick vom Belvedere vor der Kirche Sant‘Antonio. Statt gehetzter Standortrundreisender treffe ich einen älteren Neapolitaner, der einem zu Besuch gekommenen Schulfreund die Stadt zeigt: „Warum soll ich in den Urlaub fahren. Schau mal, wie schön es hier ist.“ Recht hat er.
In Mergellina angekommen, empfängt die durstige Spaziergängerin eine kleine, sympathische Bar mit leckeren, süßen Teilchen und Caffé aus frisch gerösteten Bohnen. Ich blinzle in die Vormittagssonne und genießen Dolce Vita, das süße Leben. Doch der Alltag in Süditalien ist längst nicht für alle süß.
Eine ältere Dame steuert langsam auf den Nachbartisch zu, an dem ein Herr in Armani-Anzug und eine junge Dame im Channel-Kostüm sitzen. Die ältere Dame trägt dagegen einen Wollmantel, der die beste Zeit hinter sich hat. Sie setzt ihre Brille auf, nimmt wortlos die kleine Speisekarte und studiert diese minutenlang. Andächtig legt sie die Karte wieder auf den Tisch, dreht sich um und schlurft langsam davon, währenddessen die Gäste ihren kühlen Drink genießen. Die kleine Rente erlaubt der alten Dame nicht mal einen Bar-Besuch.
Auch schenkt diese Bar keinen Caffé Sospeso aus. Das ist ein Caffé, den ein Gast bereits bezahlt hat, und der kostenlos an einen Bedürftigen ausgegeben wird. Dieser Brauch wird seit der Wende zum 20. Jahrhundert in Neapel gepflegt.

Einblicke in das echte Leben der Neapolitaner
In dieser Stadt leben Arme und Reiche Tür und Tür. Das beobachte ich auch am zweiten Tag in den Quartieri Spagnoli, dem Nachbarviertel des Centro Storico. Der Weg führt von der via Toledo mit ihren Boutiquen, Pasticcerias und Bars, mitten hinein nach Spagnoli. Dort wohnen seit Jahrhunderten die ärmsten der Armen, heute übernachten hier auch zahlungskräftige Gäste in hippen Ferienwohnungen.
Hier flattern nicht nur Wäschestücke, sondern auch farbenfrohe Plakate und Wimpel im Wind. Selbstgemalte Straßenschilder weisen mir den Weg zu einer der zahlreichen Trattorien, in der sich mittags die Bewohner zum Essen treffen. Ich nehme an einem der langen Tisch Platz. Junge und alte, Frauen und Männer, Handwerker und Reinigungskräfte in Arbeitskleidung schwatzen, gestikulieren, reißen mitunter derbe Witze, lachen laut und herzlich. Dazwischen sitzen Geschäftsleute und Rechtsanwälte in feinsten Anzügen und glatten Lederschuhen. Alle Gäste eint das frisch zubereitete Pasta-Gericht und der anschließende Caffé – der vielleicht kleinste gemeinsame Nenner aller neapolitanischen Gesellschaftsschichten.
Ebenso wie in den Quartieri Spagnoli bekommt man auch im Stadtviertel Sanità einen Eindruck vom echten Leben der Neapolitaner. Ab und an gelingt mir ein Blick in die ebenerdig gelegenen, manchmal feuchten, meist spartanisch eingerichteten Einzimmer-Wohnungen (ital. bassi), in die kaum ein Sonnenstrahl fällt. Was auf mich bedrückend wirkt.
Doch die Bewohner machen das Beste daraus. Kurzerhand rücken sie Tisch und Stühle auf die Straße und verlängern so ihr Wohnzimmer. In dieser Stadt spielt sich ein großer Teil des Lebens im Freien ab. Umgekehrt wandert es mit all seinen Geräuschen und Gerüchen in die Wohnungen hinein.
Bei meinem Streifzug verirre ich mich in einen abgelegenen Winkel des Viertels, den kaum ein Tourist betritt. Ich werde von den wenigen Bewohnern, die sich zur Siesta-Zeit auf der Straße aufhalten, als Fremde erkannt, vom (Metzger), der vor seiner Ladentür stehend auf Kundschaft wartet, freundlich gegrüßt – und schlendere weiter.



Reggia di Caserta, auf den Spuren meines Großvaters
Am dritten Tag fahre ich mit dem Campania Express ab Bahnhof Piazza Garibaldi in die Provinzhauptstadt Caserta, circa 40 Kilometer von Neapel entfernt. Ich will den bourbonischen Königspalast besichtigen, der mit 247 Meter Länge und 184 Meter Breite zu den größten Barockbauwerken Europas zählt.
Als ich auf den gigantischen Baukomplex zugehe, schnürt es mir das Herz zusammen. Mit tränenfeuchten Augen denke ich an meinen Großvater, der mir so oft von diesem Märchenschloss erzählt hat.
Er hat das Gebäude vermutlich nie betreten dürfen. Ich hingegen flanieren mehr als zwei Stunden durch einige der 1217 prunkvoll ausgestatteten Säle und bin von ihrem Glanz geblendet. Später spazieren wir den leicht ansteigenden, drei Kilometer langen Weg im Schlosspark entlang, der bis zu einer monumentalen Kaskade führt. Von dort schweift mein Blick weit über die Reggia di Caserta. Welche Aussicht mag einst mein Großvater genossen haben?
Wieder zurück in Neapel lasse ich mir abends in einer Osteria frische Spagetti mit Vongole schmecken. Dazu schenkt der Besitzer den leichten, fruchtigen Weißwein in ein einfaches, kleines Glas ein. Saluti!

Herkulaneum, Zeitreise in die römische Antike
Am vierten Tag meiner Grand Tor Neapel stehe ich früh auf und lasse das Frühstück im B&B ausfallen. Am Hauptbahnhof steige ich in die Vorortbahn Circumvesuviana ein und an der Station Ercolano-Scavi wieder aus.
Ich besichtigen das sehenswerte Ausgrabungsgelände Herkulaneum, in dem manches Detail besser erhalten ist als in Pompeji. In der Nebensaison finden sich vormittags nur wenige Besucher ein. Sie haben Ruhe und Muße für eine Zeitreise in den Alltag der römischen Antike.


Vomero, die mondäne Seite von Neapel
Am letzten Tag des Aufenthalts tauche ich nochmal in das Getümmel der brodelnden Stadt ein. Ich möchte zum höchsten Punkt des Stadtteiles Vomero, dem Castel Sant´Elmo, von dem man einen unvergleichlichen Blick über Neapel und den Golf genießt.
Mit rasanter Geschwindigkeit fährt der öffentliche Bus von Chiaia hinauf zum Vomero. Die Aussicht auf die Stadt kann ich nicht wirklich genießen, denn vor jeder Straßenkehre halte ich die Luft an. Dann wird es eng, nicht etwa für „unseren“ Bus, nein, für den Gegenverkehr. Mit stoischer Miene kurvt die junge Busfahrerin mit der coolen Sonnenbrille ausgesprochen sicher die stark befahrene Straße hinauf. Alle Achtung, das hätte ich mir nicht zugetraut.
Wer sich in dem mondänen Stadtviertel eine teure Wohnung in einer der prächtigen Villen leisten kann, hat es geschafft, sagen die Neapolitaner. Passend zum Einkommen der Bewohner finden sich hier neben Nobelboutiquen und den Geschäften großer Handelsketten auch sogenannte Gourmettempel.
Ich kehre in eine familiär geführte Osteria ein, die vollbesetzt ist mit Einheimischen. Das einfache traditionelle Mittagsmenü schmeckt hervorragend. Auch hier fällt mir auf: Die Abläufe im kleinen Gastraum sind durchoptimiert, jeder Handgriff des Personals sitzt, keiner geht mit leeren Händen zurück in die Küche.
Abends flaniere ich ein letztes Mal an der Lungomare in Chiaia, zuerst in Richtung Vesuv, dann der untergehenden Sonne entgegen. Ich atme tief die frische Meeresluft ein und genieße die Ruhe auf dieser breiten Straße, die seit einigen Jahren zur Fußgängerzone erklärt wurde.
Am nächsten Morgen ist der Schmerz groß, es heißt es Abschied nehmen vom farbenfrohen Neapel und seinen liebenswerten Menschen. Auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal.

